„Läuft es schon?“ Einige Gründe, warum wir Babies und Kleinkindern nicht „Gehen“ lernen müssen.

Die autonome Bewegungsentwicklung der Kinder läuft zeitlich sehr unterschiedlich ab. Da gibt es Babies, welche mit acht Monaten zu krabbeln beginnen, während andere in diesem Alter noch am Rücken liegen. Andere krabbeln mit 15 Monaten und sind vorher lang und ausgiebig gerobbt.

Wieder andere Kinder tendieren bereits sehr früh in die Vertikale und versuchen sich, an allen möglichen und manchmal auch unmöglichen Gegenständen hochzuziehen. Auch hier ist die Bandbreite des Zeitpunktes des Aufstehens mit Festhalten von ca. 9 Monaten bis zu 16 Monaten sehr groß.

Auch das selbständige Aufsitzen ist so ein Thema. Kinder kommen zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten und auf unterschiedliche Art ins Sitzen. So gibt es Kinder, welche sich mit 9 Monaten selbst aufgesetzt haben, andere wiederum lassen sich Zeit bis 15 Monate.  Das Aufsitzen kommt sehr häufig nahezu gleichzeitig mit dem Krabbeln.

Sehr gravierend ist auch die zeitliche Abweichung beim meist sehr herbeigesehnten großen Meilenstein, den ersten freien Schritten. Es gibt Kinder die mit 10 Monaten auf den eigenen kleinen Füßen losstarten und Kinder, welche sich bis zum 21. Monat damit Zeit lassen.

Viele Kleinkinder scheinen es zu mögen, wenn man sie an der Hand führt und mit ihnen Gehen übt.
Wenn es ihnen Freude macht, warum sollte man es dann dennoch unterlassen?

Ich möchte hier versuchen, ein paar Gründe für die „autonome Bewegungsentwicklung“ des Kindes anzuführen – damit ist gemeint, dem gesunden Kind zuzugestehen und zuzutrauen, dass es ohne Unterstützung oder Anleitung einer erwachsenen Person die Entwicklungsstufen einschließlich  verschiedener Übergangspositionen vom Liegen am Rücken bis zum freien Gehen bewältigen kann.

Wenn es um die motorische Entwicklung geht, sind Babies Selbstlerner. Indem wir ihnen „zur Hand gehen“ – sie an der Hand führen, behindern wir ihre natürliche Fähigkeit, ihr Gleichgewicht zu finden. Wir erschweren ihr Vermögen, räumliche Beziehungen wahrzunehmen und zu beurteilen, was sie selbst können und was noch nicht. Sinnvoller ist es, darauf zu vertrauen, dass unsere Babies laufen, wenn sie dazu bereit sind. „Readiness is when they do it.“ (Magda Gerber -Schülerin Emmi Piklers).

Sicherheit und Geschmeidigkeit:  Das an den Händen geführte Kind kann ein verfälschtes Bild seiner Fähigkeiten hinsichtlich seines Gleichgewichtes entwickeln. Ein autonom entwickeltes Kind kann kompetent entscheiden, ob es beispielsweise eine Rampe hinaufgeht oder lieber noch hochkrabbelt.  Es hat ein gutes Gefühl für seine Fähigkeiten entwickeln können.
Anhand einer großen Anzahl von Kindbeobachtungen im Pikler-Institut konnte festgestellt werden, dass die Bewegungen der Kinder „gut koordiniert, ökonomisch und vorsichtig“ waren. Zudem haben alle Kinder die altersgerechten Fähigkeiten erlangt.

Die sogenannten Übergangsbewegungen, die Emmi Pikler mit ihrem Team in ihren Beobachtungen von über 700 Kindern auf ihrem Entwicklungsweg vom Liegen am Rücken zum Gehen erkannt und dokumentiert hat, sind insofern bedeutend, als sie dem Kind in jedem Entwicklungsstadium die größtmögliche Mobilität erlauben.

Ein Kind mit autonomer Bewegungsentwicklung verändert im Durchschnitt ein Mal pro Minute seine Position und häufig auch seinen Platz. Es genießt seine Bewegungsvielfalt und in Folge dessen seine Unabhängigkeit.

Voraussetzung dafür ist ein ausreichend großer und sicherer Raum, der mit dem „Mobiler werden“ des Kindes mitwächst. Das heißt nicht, dass sich das Kind immer in der gesamten Wohnung bewegen dürfen soll. Ein den räumlichen Möglichkeiten entsprechender Raum oder -abschnitt mit einigen Quadratmetern, der SICHER ist, ist eine gute Grundlage.
Die häufig immer noch verbreitete „Gehschule“ oder „Laufstall“ ist für die autonome Bewegung eines Kindes deutlich zu klein. Hierin gibt es nicht ausreichend Platz für den so bedeutsamen  Entwicklungsschritt des Krabbelns. Die Kinder kommen tatsächlich häufig rascher in die Vertikale, konnten allerdings die Vielfalt der Zwischen- und Übergangspositionen nicht oder nur unzureichend üben und ausprobieren.

Abhängigkeit: Das Führen an den Händen schafft eine unnötige Abhängigkeit vom Erwachsenen. Viele Kinder fordern das Gehen immer wieder ein, denn sie lieben Wiederholungen und Gewohnheiten. Hier können wir feststellen, dass Kinder meist ausdauernder sind als wir.
Kinder, denen diese gutgemeinte Unterstützung nie angeboten wurde, verlangen auch nicht danach. Im Gegenteil, sie können sich über die aus eigener Initiative erreichten Ergebnisse freuen, fühlen sich unabhängiger und erleben sich als selbstwirksam und kompetent.

Ein grundlegendes Vertrauen in unser Baby ermöglicht ihm am besten, seine eigene Entwicklung voranzutreiben. Wenn es unser Zutrauen spürt, gelingt es ihm auch, seine selbstgewählten Herausforderungen anzunehmen und zu bewältigen. Das führt schließlich zu echtem Selbstvertrauen.

Dieser Grundsatz gilt insbesondere bei sich langsamer entwickelnden, gemütlichen Kindern. Entscheidend ist NICHT der Zeitpunkt, an welchem die verschiedenen Meilensteine erreicht werden, entscheidend ist ganz allein die Bewegungsqualität. Und umso wichtiger sind bei langsamer entwickelnden Kindern das Ermöglichen des ganzen Bewegungsspektrums einschließlich der Zwischen- und Übergangspositionen. Dann werden auch die später entwickelnden Kinder nicht ungeschickt und können ihre Möglichkeiten gut einschätzen.

In einem anderen Beitrag habe ich zu einer früheren Phase der Bewegungsentwicklung bereits meine Gedanken zusammengefasst. Am Rücken liegen und sich frei bewegen.

Zurück zur Einstiegsfrage – „Läuft er schon?“ oder „Spricht sie schon?“ oder „Schläft es schon durch?“ … Hier könnte man noch so einiges fortsetzen.
Wenn es gelingt, uns an dem zu erfreuen, was gerade ist, und nicht voller Ungeduld den nächsten Schritt herbeizusehnen, dann fühlen sich unsere Kinder geschätzt, geliebt und genug so wie sie sind.